Hans Stalder: »Der Spion. Schweizer Kriminalroman aus dem Jahre 1942«, 1943
von Mirko Schädel


Hans Stalder: Der Spion. Schweizer Kriminalroman aus dem Jahre 1942, Bern: Verlag Freies Volk 1943, 200 Seiten


Es ist leider bislang nicht klar, ob es sich bei dem Autoren um den Mundart-Dichter Hans Stalder handelt, oder ob es sich um eine andere, bisher nicht identifizierte Person handelt. Wenn es sich um den Mundart-Dichter Hans Stalder handeln sollte, dann hat er im Alter von 20 Jahren bereits seinen Erstling mit dem Titel »Brandfall 1935« vorgelegt, der sich ebenfalls wie »Der Spion« durch seine hohe Qualität auszeichnet.

Der Spion ist ein Spionage- und Kriminalroman, der seiner Zeit weit voraus ist und sich in jeder Hinsicht durch Qualität und wie der Schweizer sagt »Sauberkeit« hervortut, im Sinne von sauberer schriftstellerischer Arbeit. Die ganze Geschichte kreist um die Gestalt des jovialen, menschenfreundlichen Informators Kunicke, der gemeinsam mit einer jungen, etwas hageren Sekretärin und des eben frisch eingestellten Hilfs-Informators Karl Meister eine Art Agentur und Detektei leitet.

Der Roman beginnt mit der Beschreibung einer spleenigen alten Jungfer namens Klementine Gerber, die ein abgeschiedenes Dasein im ersten Stockwerk ihres Hauses führt. Die einzige Freude der Jungfer Gerber besteht in einer Schachtel lebender weißer Mäuse, wobei offenbar Luzicken ihre Lieblingsmaus ist. Jungfer Gerber erhält unerwarteten und unwillkommenen Besuch von einem ihrer Neffen, dabei ahnt sie instinktiv, daß die liebe Verwandtschaft es nicht gut mit ihr meint und nur hinter ihrem Geld her ist. Jungfer Gerber, die diese Art Besuche nicht zu schätzen weiß und sich ängstigt, gelingt es den Neffen vor die Tür zu setzen. Auch sieht sie den Gassenbuben vom Fenster her zu, wie sie den Zaun ihres Gartens erklimmen und die Äpfel und Birnen entwenden, darüberhinaus machen sie sich über Fräulein Gerbers Faktotum lustig, dem Hausdiener »Boy«, ein älterer, taubstummer Mann, dem die Buben auf der Nase herumtanzen.

Fräulein Gerber wendet sich aufgrund einer Zeitungsannonce an die Firma des Herrn Kunicke, mit diesem verbringt sie einige Zeit in seinem abgeschlossenen Büro, und der liebenswürdige Herr Kunicke verspricht der alten Dame umfassende Hilfe bei ihren Problemen und gewinnt deren Vertrauen durch seine altmodischen, psychologisch geschickt angewandten Manieren. Kurze Zeit darauf räumt Herr Kunicke Fräulein Gerbers Konten leer – immerhin ein kleines Vermögen von 80.000 Franken, die der liebenswürdige Herr Kunicke nicht mehr herzugeben bereit ist. Deshalb beschließt unser sauberer Held die alte Dame aus dem Weg zu räumen.

Fräulein Gerber hat das Erdgeschoß und das zweite Stockwerk vermietet, von diesen Mieteinkünften lebt sie. Doch schon einige Tage später stellt sich erneut unliebsamer Besuch ein, jener unliebsame Neffe betritt mit einer Entourage von Brüdern und deren Gattinnen Fräulein Gerbers bescheidenes Heim. Sie fühlt sich völlig überfordert und verängstigt, vereinzelt begutachten die lieben Familienmitglieder schon einmal das Silberzeug des Fräuleins, während der Wortführer der alten. Hilflosen Dame zu erkennen gibt, daß es nunmehr Sache der Familie sei sich um die alte Tante zu kümmern, was Fräulein Gerber durchaus als Bedrohung einzuordnen weiß. Die Atmosphäre dieser Situation erinnert den Leser an Musils kongenialen Titel »Nachlass zu Lebzeiten«.

Doch Hilfe naht, der selbstbewußte Herr Kunicke überrascht die liebenswürdige Verwandtschaft in Fräulein Gerbers Wohnung, hat er doch ein Duplikat des Wohnungsschlüssels in seiner Verwahrung und komplimentiert die Familie charmant vor die Tür – nicht ohne einige geschickt eingefädelte Spitzen gegen diese von plötzlicher Nächstenliebe erfaßten Familienmitglieder fallenzulassen. Fräulein Gerber gerät sozusagen vom Regen in die Traufe, doch ahnt sie Kunickes Absichten noch nicht.

Dafür jedoch scheint Karl Meister, Kunickes seltsamer neuer Mitarbeiter, die Situation zu durchschauen. Meister begibt sich unangekündigt in Kunickes Büro und läßt durchblicken, welche Absichten und Geschäfte Kunicke verfolgt. Die Polizei ist nämlich Herrn Kunickes Nebenerwerb auf der Spur, eine Spionagetätigkeit, dem Schleusen von Geheimpapieren usw. Kunicke gerät zunehmend in Verwirrung und in Panik ob der Kenntnisse seines Untergebenen. Meister weiß erheblich zuviel. Kunicke beschließt die Beseitigung der alten Jungfer anzugehen, da er befürchten muß, daß die alte Dame nach ihrem Vermögen fragen könnte.

Der Leser ahnt bereits, daß Meister mit dem jungen Polizisten Brunner identisch sein muß und offenbar bei Kunicke eingeschleust wurde um dessen Spionagetätigkeit aufzudecken, doch der Autor geht dabei so geschickt vor, daß der Leser immer nur Mutmaßungen anstellen kann und die Rolle Meisters tatsächlich bis zum Schluß vage bleibt. Möglicherweise ist Meister auch nur ein übler Erpresser, denn er kann Kunicke davon überzeugen ihm die gestohlenen 80.000 Franken der Jungfer Gerber auszuhändigen, was Kunicke äußerst widerwillig auch tut. Die Spannung dieser Geschichte nimmt noch erheblich zu, als Kunicke nämlich zur Tat schreiten will mit einer Injektionsspritze bewaffnet, und er in die Wohnung der alten Dame eindringt, und er sein Opfer nicht finden kann – bis Kunicke vermutet, es sei ihm bereits jemand mit der Ermordung der Jungfer zuvor gekommen.
Die Geschichte ist überaus komplex und doch gut verständlich, ich weiß nur nicht, ob ich die Reihenfolge der Ereignisse noch wahrheitsgemäß wiedergebe. Kunicke beschließ – in anbetracht seiner panischen Angst vor Entlarvung seiner zahlreichen Verbrechen – zu fliehen. Seine Spionagetätigkeit ruht derweil, auch sein Vorgesetzter innerhalb des Spionagerings kann ihn nicht besänftigen und verwirrt ihn noch zusätzlich durch einen codierten Brief, der sich mit der Identität Karl Meisters beschäftigt.

Doch Kunickes Flucht innerhalb der Schweiz ist nur von kurzer Dauer, da er nicht weiß, ob die Polizei ihm bereits auf der Spur ist … beziehungsweise ob man ihm auch nur eines seiner Verbrechen nachweisen kann oder er überhaupt bereits polizeilich gesucht wird. Seine Rückkehr wird ihn in die Netze der Polizei treiben. Der ermittelnde Staatsanwalt wird ihm zahlreiche Verbrechen nachweisen können, wobei ein früheres Verbrechen Kunickes relevant zu werden scheint, das zuvor nur unzureichend, also vage angedeutet wird. Kunicke soll einen jüdischen Flüchtling, der um Hilfe für seine noch im Deutschen Reich befindliche Gattin bat, den Nazis ausgeliefert haben. So soll Kunicke gleich zweimal kassiert haben, einmal von dem jüdischen Flüchtling für die angeblich arrangierte Flucht der Gattin vor ihren Häschern, zum anderen von den Nazis, die eben jenen Flüchtling von Kunicke auf einem silbernen Tablett serviert bekamen. Darüberhinaus wird Kunicke der Erpressung, der Unterschlagung, des versuchten Mords, Mords und der Spionage angeklagt.

Jener Karl Meister nämlich, der als V-Mann bei Kunicke eingeschleust war und tatsächlich mit dem Polizisten Brunner identisch ist, ist der Sohn eines von Kunicke ermordeten Chauffeurs, letzterer wurde beseitigt um dieses Verbrechen, die Auslieferung des jüdischen Flüchtlings an die Nazis, zu verschleiern. Brunner/Meister, Sohn des ermordeten Chauffeurs, schwur dem Mörder seines Vaters Rache und beschloß Polizist zu werden.

Stalders Figuren sind meisterlich skizziert und seine Milieuschilderungen überzeugend dargestellt. Zurecht wird Stalder mit Glauser verglichen, was nämlich die herausragende Qualität dieser Kriminalromane betrifft, die sich nicht vor den Krimis des Meistererzählers Friedrich Glauser zu verstecken brauchen. Dieser Kunicke, der als jovialer, menschenfreundlicher Arbeitgeber in den Roman eingeführt wird, wird nach und nach von Stalder seines freundlichen Äußeren entkleidet, bis er dem Leser völlig nackt als ein verschlagenes Biest erscheint, als das was er ist: ein Ungeheuer, das selbst seine eigene Großmutter für etwas Geld grausam ermorden würde. Ein gewissenloseres Monster läßt sich kaum vorstellen – und diese Wandlung einer durchaus positiv konnotierten, sympathischen Figur in ihr krasses Gegenteil läßt an Robert Louis Stevensons Klassiker »Dr. Jekyll und Mr. Hyde« denken.